Unglaublich, wie manchmal Zufälle zusammenspielen können. Wie gerade jetzt, wo völlig voneinander
unabhängige Vorkommnisse in unserer Stadt ungeahnte, nie erwartete Hektik auslösten.
Heinz Hodel
Was meint ihr, liebe Leserinnen und Leser, was haben die japanische Familie Tanaka, ein angelieferter Frachtcontainer im Flughafen, die beiden Klotener Familien Oberhänsli und Pozzi miteinander zu tun? Eigentlich nichts, könnte man meinen. Aber weit gefehlt. Diese drei Familien und der Frachtcontainer zusammen bildeten die Grundlage für ein Jahrzehntereignis mit erheblichen Folgen. Sie sollten die Flughafenstadt Kloten in Wochenfrist in einen emsigen Bienenstock verwandeln, eine Stadt, in der doch bisher alles gut geregelt, ruhig und organisiert ablief. Aber nur bis zu dem Zeitpunkt, als sich Familie Tanaka entschloss, ihre mit ihnen befreundete Familie Oberhänsli in der Nähe der Militärkaserne in Kloten zu besuchen.
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Oberhänslis waren vor fünf Jahren auf einer Reise nach Tokio in einem Sushi-Restaurant den Tanakas über den Weg gelaufen. Das heisst, sie sassen zufällig nebeneinander in dieser Sushi-Bar, kamen ins Gespräch. Tanakas waren weit gereiste Menschen, interessierten sich für europäische Länder. Und Herr Oberhänsli und Herr Tanaka arbeiteten sogar beide jeweils an ihren örtlichen Flughäfen, was ausgiebigen Gesprächsstoff lieferte. Herr Tanaka und seine Frau Nanami versprachen nach einigen Sake-Runden den Oberhänslis, sie bei der nächsten Reise nach Europa zu besuchen. Bis dann sei ihr kleiner Junge namens Ihiro auch gross genug und damit fähig, eine solche Reise bestens zu überstehen. So nahm das sich unbemerkt anbahnende Verhängnis seinen Lauf.
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Anfang des Jahres 2022 begannen die Uhren infolge einer ungeahnten Verkettung von unglücklichen Umständen leise zu ticken. Graue Wolken ballten sich am Horizont zusammen, ohne dass jemand in unserer Stadt auch nur die geringste Ahnung davon hatte, was ihnen drohte. Im Äntschberg begann man sich damals über die prächtig austreibenden Rebstöcke zu freuen, die Bauern unterhalb Gerlisberg freuten sich über die wunderbar erblühenden Kirschbäume und am Stadtrand von Kloten trieben die Mais- und Rapsfelder gleichzeitig saftig grüne Blätter aus. Dass sich im Verborgenen auch noch ein unbekanntes Wesen an dieser Freude beteiligte, das blieb unerkannt. Einzig einige kleine Kinder auf dem Spielplatz im Stighag freuten sich über einen etwas komisch anmutenden, kleinen «Maikäfer», der aber in Wirklichkeit gar kein Maikäfer war. Dies fiel damals niemandem auf, denn so gut sind im Allgemeinen die Kenntnisse über das, was in Kloten so kreucht und fleucht, auch wieder nicht.
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Auch die Familie Pozzi, bestehend aus Vater Giuseppe, Mutter Rosa und Sohn Marcello, erinnerte sich nur noch schwach an die Ferienreise im Frühling des vergangenen Jahres zu ihren Verwandten in der Region Mailand. Bei ihrer Rückkehr nach Kloten bemerkten sie jedenfalls nicht, wie der kleine, lustige «Maikäfer» (der ja keiner war) mit den kleinen Haarbüscheln am Hinterteil nach dem Öffnen des Kofferraums aus der Tasche mit mitgebrachten Esswaren aus ihrem Heimatland Italien herauskroch und vor seinem Abflug Richtung Fussballplatz etwas erstaunt zuerst die für ihn völlig neue Umgebung musterte. Zeit für langes Staunen hatte er aber nicht, denn Herr Pozzi riss recht energisch den letzten Koffer aus dem Kofferraum. Es wurde plötzlich gefährlich für den kleinen Kerl. Schnell entfaltete er seine bunten Flügel und schwirrte von dannen.
Es musste etwa um die gleiche Zeit gewesen sein, als im Frachtgebäude des Flughafens ein Container aus Japan von den Zöllnern für eine Überprüfung seines Inhaltes kurz geöffnet wurde. Die Kontrolle ergab, dass die eingeführten, speziellen Lebensmittel für diverse japanische Restaurants in der Schweiz der beiliegenden Deklaration bis ins letzte Detail genau entsprachen. Das kleine, einem Maikäfer ähnliche Flugobjekt mit den putzigen, weissen Haarbüscheln am Hinterleib in der hinteren Ecke des Containers entzog sich aber einer eingehenderen Prüfung mit einer leise surrenden Flucht zwischen den beiden Zöllnern hindurch, hinaus in die Halle. Von dort war der Weg nicht weit bis zum Fussballplatz Stighag, wo sich wohl gerade in diesem Moment der Flüchtling aus Pozzis Auto, nennen wir ihn im Interesse besseren Verständnisses einfach Tha-Shi, auf einen Busch Rosen abgesetzt haben mag. Da der zweite Ankömmling aus dem Frachtgebäude den Namen Tha-Na hatte, können wir daraus schliessen, dass Tha-Shi ein Männchen und Tha-Na ein weibliches Wesen sein musste oder anders herum, wie auch immer.
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Da spielte es schon fast keine Rolle mehr, dass der kleine Sohn der Familie Tanaka, eben den kleinen Ihiro, schon lange eine extreme Liebe zu kleinen und grossen Insekten entwickelt hatte. Zu Hause hatte er ein ganzes Heer von kriechenden und fliegenden Tierchen in verschiedenen, mit Luftlöchern lebenswert gemachten Behältern gesammelt, die er hegte und pflegte, als ob es seine Brüder wären. So erstaunte es nicht, dass er auf die Reise in die Schweiz in seinem Reiserucksack eine kleine Schachtel versteckte, die seine beiden Lieblinge, je ein Tha-Shi und ein Tha-Na enthielten, versehen mit angefeuchteten, grünen Blättern als Futtervorrat. Ihiros Eltern, Nanami seine Mutter und Akio sein Vater, waren beide ahnungslos, was ihr Sohn da heimlich mitschleppte. Es ist verständlich, dass Tobi, der kleine Sohn der Oberhänslis, nach dem ersten gegenseitigen Beschnuppern mit dem Sohn der Tanakas unbedingt wissen wollte, was denn Ihiro in dieser kleinen Schachtel mit den Luftlöchern verborgen hatte. Weil aber Ihiro Tobi noch zu wenig kannte, behielt er dieses Geheimnis zwei Tage lang für sich. In der zweiten Nacht hielt Tobi diese Geheimnistuerei nicht mehr aus und schlich nachts leise in die Stube, wo Ihiro seinen Reiserucksack mit seinem exotischen Schatz deponiert hatte. Tobi verhielt sich leider wenig vorsichtig, packte mit einem kühnen Griff aus dem Rucksack die graue Schachtel und hob deren Deckel ein wenig an. Er zuckte zusammen, als zwei Flugobjekte, ein Tha-Shi und eine Tha-Na, nahe an seinem Kopf vorbei durch das offene Stubenfenster davonschwirrten. Dass Ihiro untröstlich war, als er den Verlust am nächsten Tag entdeckte, dürfte für die folgenden Ereignisse wohl nicht mehr von grosser Bedeutung gewesen sein.
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Der geneigte Leser hat sicher nachgerechnet, dass sich jetzt im Raum Kloten je zwei Tha-Shi und zwei Tha-Na herumtrieben. Und es ist eine Binsenwahrheit, die jedes Kind ab einem bestimmten Alter kennt: In der Fremde tun sich zwei Tha-Shis und zwei Tha-Nahs schon nach kurzer Zeit zusammen, umso mehr, als sich bekanntlich unter den vielen neuen, fremdartigen Gerüchen eigene Gerüche sehr schnell zusammenfinden. Und so gab es, wie vermutet wird, im Bereich des nahen Stighag-Fussballplatzes in jenem bestimmten Rosenbusch bald ein käferliches Treffen besonderer Art, welches infolge des nahen Wonnemonates August schlussendlich zu einer richtigen Paarungsorgie ausartete. Niemand im Quartier nahm aber Notiz davon. Die Fussballer und Fussballerinnen mit ihren Zuschauern hatten auf der Sportanlage andere Interessen. Weil dann eine Serie heftige Gewitter die grossen Rasenflächen wie auch die nachbarlichen Gärten ausgiebig mit warmem Nass versorgten, ergaben sich auch keine Probleme für die putzigen Tierchen, ihre Brut in der weichen, feuchten Erde zu verstecken und damit über den in diesem Jahr ungewöhnlich milden Winter zu bringen.
Im darauf folgenden Jahr 2023, genauer im Verlaufe der Monate Juni und Juli, krabbelte dann die neue Generation dieser komischen, andersartigen ‹Maikäfer› gerade in dutzendfacher Ausführung aus dem weichen Boden, so dass sie von den Einwohnern nicht mehr übersehen werden konnten. Wer dann endlich herausfand, welcher Gattung diese Tha-Shis und Tha-Nahs korrekterweise angehörten, das bekam man nicht zu wissen. Aber ein leiser Hinweis hat ganz sicher seinen Weg vom Tessin über den Gotthard zu uns nach Kloten gefunden. Sonst frage man einfach einen Weinbauern aus dem sonnigen Südkanton, der seinen Schock über kahl gefressene Rebstöcke Marke Merlot del Ticino schon ziemlich wütend hinter sich gebracht hat.
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Jedenfalls waren nun plötzlich zahlreiche Männer in Marsmännchen-ähnlichen Schutzanzügen auf Klotener Quartierstrassen zu sehen, die den Kampf mit den unerwünschten, gefrässigen Besuchern aus Japan aufnahmen. Fangnetze, grosse Mengen versprühter Insektenmittel in den Gärten und Duftstofffallen auf den Wiesen sorgten jetzt in der Stadt und schweizweit für viel Gesprächsstoff. Ja und was ist mit den Tanakas, den Pozzis und den Oberhänslis in dieser Geschichte nachträglich geschehen? Will es Ihnen jetzt ins Ohr flüstern, aber nur Ihnen allein: Diese Geschichte ist nur meiner Fantasie entsprungen. Es gibt sie gar nicht, diese Japaner-Familie Tanaka und die Pozzis und die Oberhänslis.
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Oder ist doch ein wenig Wahrheit an dieser Geschichte? Denn irgendwie müssen doch die putzigen Käferlein zu uns gekommen sein. Über den Gotthard geflogen sind diese kaum. Nach einem altbekannten Lied flogen ja ehemals nur die blutsaugenden Bremsen über den Gotthard. Oder etwa doch auch ein paar wenige Tha-Shis und Tha-Nahs? Wer weiss?
Wenn ich aber jetzt durch unsere Quartiere gehe, dann zeigen mir die vielen aufgestellten Fangnetze und Insektenfallen, dass letztendlich doch etwas an dieser zusammengebrauten Geschichte vom Äntsch stimmen könnte! Und sonst? Ist doch auch egal.








